zocker

Wann immer wir über andere Menschen urteilen, behaupten wir zu wissen, was »richtig« und was »falsch« ist.
Guter Satz, oder? Klingt irgendwie richtig.
Kritik hat immer eine Komponente Meinung und gesunden Menschenverstand; wobei letzterer das Mittel der Wahl bei eigentlich unlösbaren Problemen ist, indem man alles ignoriert, das in schwieriges Terrain weist, und den Mittelweg der ungeschriebenen Gesetze beschreitet.

Ein ungeschriebenes Gesetz besagt zum Beispiel, dass man mit Anfang 30 irgendwohin unterwegs sein sollte. Ein Mann in dem Alter sollte sich nicht seit einem Jahr nur noch zwischen Sofa, Küche und Badezimmer bewegen, ohne ein einziges Mal auf dem Balkon, geschweige denn vor der Tür gewesen zu sein. Er sollte nicht wie ein Lurch auf Polstern liegen und den ganzen Tag an der Xbox verdaddeln. Keine Zahnprobleme haben aufgrund von Mangelernährung.
Ein Mann in dem Alter sollte mich vollständig bekleidet an der Tür empfangen, und nicht mir den Schlüssel aus dem ersten Stock herunterwerfen, mit einer Geste, als würde er befürchten, die Hand zu verlieren, wenn er sie zu weit aus dem Fenster streckt.

Eigentlich, mit gesundem Menschenverstand betrachtet, sollte er jemanden wie mich überhaupt nicht benötigen. Er sollte in der Lage sein, eine zweite Mülltüte zu eröffnen, wenn die erste voll ist. Einen Teller zu spülen, wenn er leer gegessen ist. Essensreste nicht einfach auf der Anrichte verschimmeln zu lassen. Eine leere Coladose in die Küche zu tragen.
Ich könnte nen Föhn kriegen – wie wir das früher gesagt haben, wenn einem echt die Haare zu Berge standen – wenn ich durch seine Müllsammlung scanne, um den tatsächlichen Müll vom noch brauchbaren Kram zu trennen: auf dem Tisch, neben dem Tisch, unter dem Tisch, überall leere Dosen, leere Snackstüten, halb volle Tüten, Schuhe, ausgekaute Kaugummis, Nahrungsergänzungsdrinks in leerem und vollem Zustand, Gläser mit in Verwesung übergegangenem Inhalt, ein Haufen gebrauchter Taschentücher fest verbacken mit Essensresten auf einem darunter verborgenen Teller samt festgeklebtem Besteck, ein Handy, noch mehr leere Dosen, Konsolensteuerung, Zahnpasta?, Briefumschläge, alles breitflächig dekoriert mit geknülltem Papier vom Naseputzen, Händewischen und möglicherweise anderen Dingen, von denen ich überhaupt nichts wissen will.
In der Küche zehn Verpackungskartons von Fertigmahlzeiten. Essenreste. Mehr Essensreste zwischen in der Spüle gestapelten Tellern. Tote Erbsen mit irgendwas ungesund Blaugrünem dazwischen. Der obligatorische Pizzakarton mit dem letzten, steinhart getrockneten Stück Pizza.
Alter, echt. Das darf nicht wahr sein!

Hinter der Tür zum Schlafzimmer, wo er sich vor der Welt in Gestalt der Putzfrau versteckt, ist es so still, als wäre er da drin zu Stein erstarrt. Ich habe Lust, die Tür aufzureißen und ihn zu fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Ob das sein Ernst ist, die beste Zeit seines Lebens damit zu verbringen, bei lebendigem Leib zu verrotten.
Stattdessen werfe ich vier Tüten gesammelten Müll neben die Wohnungstür und aktiviere den Staubsauger. Das Reich, in dem er sich sicher fühlt und wo er lebt, besteht aus einem großzügigen Ecksofa mit Tisch und Bildschirm. That’s it. Während ich die Polster wende und absauge, frage ich mich jedes Mal, wie das passieren konnte. Auf Facebook sieht man einen jungen Mann mit Kurzhaarschnitt und Terrier, der davon spricht, dass er seine Traumausbildung gefunden hat.
Das war vor eineinhalb Jahren.

Inzwischen sieht er aus wie Jesus in Blond und er hat die ungesunde Hautfarbe von Menschen, die das Sonnenlicht nur durchs Fenster sehen. Ein Nichtwesen, flüchtig und muskelbefreit körperlos, wenn er an mir vorbei ins Versteckzimmer huscht. Vielleicht hat er herausgefunden, dass die Welt keinen Restart-Button hat, und das hat ihn so erschreckt, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben will.
Meinung halt. Also meine.
Nicht hilfreich bei dem Versuch, mein Bedürfnis aufzulösen, ihm seine Mülltüten an den Kopf zu werfen und ihn anschließend irgendwo in den finsteren Wald zu schleifen und da alleine zu lassen; um zu sehen, ob er lieber unter einer Tanne verreckt, statt sich einen Weg zu suchen.
Egal. Ich mache meinen Job und schreibe hinterher eine kurze Notiz, dass der Abfluss im Bad immer noch verstopft ist.

Es gefällt mir nicht, jemandem dabei zu assistieren, mit sauberer Würde sein Leben zu ruinieren, indem ich seinen Fußboden wische.
Andererseits gibt es da keine Lösung, die ohne unzulässige Grenzüberschreitungen ablaufen könnte. Ich kenne den Typen nicht. Weiß nichts über seine Gründe. Egal, was mein gesunder Menschenverstand mir sagt. Er befindet sich abseits des Mittelwegs im dichten Gestrüpp.
Außerdem – es gab andere Zeiten und Umstände – bin ich damit fertig, fest entschlossene Menschen davon abhalten zu wollen, ihren Weg in den Abgrund zu wandeln.
Sollen sie.
Reisende soll man nicht aufhalten.
Ich halte mich an die Standards für meinen Job, will sagen, ich bin für Ordnung und Sauberkeit zuständig (Ich! – aber das ist ein anderes Thema).
Also hänge ich ihm eine Tüte für den Müll hin.
Der Tag, an dem er sie zuknotet, wenn sie voll ist, und eine neue an den Haken hängt, wird ein Grund zum Feiern sein.

Seit zwei Wochen steht ein Trainingsfahrrad im Wohnzimmer. Keine Ahnung, ob er es benutzt. So gesehen sind auch die leeren Packungen von Fertigmahlzeiten ein gutes Zeichen. Besser als Kekse und Schokolade und Ernährungsdrinks.
Vielleicht tut sich ja was.
Ich werde es wissen.

4 Antworten auf „zocker

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  1. »Gläser mit in Verwesung übergegangenem Inhalt, ein Haufen gebrauchter Taschentücher fest verbacken mit Essensresten auf einem darunter verborgenen Teller samt festgeklebtem Besteck …«

    Allzu häufig scheint die Putzfee ihren Brötchengeber wohl nicht heimzusuchen, oder ist das ein Jahresresümee? 😉

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